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Wie viel Utopie braucht die Freiheit?

Maja Göpel und Sven Prien-Ribcke über die Utopie-Konferenz 2022

Das visionäre Denken ist gerade in Krisenzeiten wichtig.

Wie viel Utopie braucht die Freiheit? Maja Göpel und Sven Prien-Ribcke über die Utopie-Konferenz 2022

Die Utopie-Konferenz der Leuphana Universität Lüneburg fand 2018 zum ersten Mal statt. Im letzten Jahr gab es unter Pandemie-Bedingungen über 120 Utopie-Camps, die sich in ganz Deutschland zusammengefunden haben, um über den Wohlstand im 21. Jahrhundert nachzudenken. Vom 30. August bis zum 2. September 2022 lädt die Utopie-Konferenz erneut zum Philosophie-Festival und demokratiepolitischen Experiment auf den Campus der Leuphana Universität Lüneburg ein. Über Hintergründe und Ausblicke berichten die Gastgeberin Maja Göpel und der Konferenzleiter Sven Prien-Ribcke im Interview.


Interview: Daniela Mahr, Juli 2022
Fotos: Maja Göpel: Jelka von Lange, Sven Prien-Ribcke: Marvin Sokolis

Es kamen demokratische Kreativität, wohlwollende Nachdenklichkeit und visionäre Vorfreude zusammen, um eine andere, die nächste Gesellschaft auszuleuchten.



Für diejenigen, die 2018 und 2021 nicht an den Konferenzen teilnehmen konnten: Was macht die Utopie-Konferenz besonders? Wer war da, welche Programmpunkte und Highlights gab es?


Sven Prien-Ribcke: Die Gegenwart des letzten Sommers war von der Sehnsucht geprägt, die Pandemie irgendwie hinter sich zu lassen. In einer Situation, in der quasi die ganze Welt aus den ökonomischen Routinen und sozialen Gewohnheiten geworfen wurde, wollten wir gemeinsam mit Maja und Richard David Precht den Blick auf die Zukunft des Wohlstands scharf stellen. Da ein großes Zusammentreffen in Lüneburg noch nicht sinnvoll war, haben wir über 120 gute Orten im ganzen Land als Utopie-Camps miteinander verbunden, um den Wohlstand von morgen zu erkunden. So wirkten Projekte wie „Radikale Gastfreundschaft in Hamburg Altona“ und „Urbanes Leben der Zukunft-Hipsterspielwiese oder Lebensraum?“ von der VHS Berlin Mitte zusammen mit dem ResilienceHub im finnischen Joensuu und dem Kunstprojekt feinheit in Brilon.

Maja, 2018 gehörtest du noch zu unseren Gästen. Wie hast du die Utopie-Konferenz erlebt?
Maja Göpel: Für mich war der Ort und die Stimmung sehr besonders. Ein Campus wie in Lüneburg und dann noch so ein tolles Gebäude haben viele Begegnungen und spontanes Verweilen zugelassen. Auch war die Spannbreite der Themen natürlich großartig und der Mut zu neuen Formaten. Harald Welzer und ich wussten bis zum Abend vorher ja nicht einmal, dass keine Moderation vorgesehen war, sondern wir einfach improvisieren sollen (lacht).

Wie kam es überhaupt dazu, dass die Leuphana Universität eine Utopie-Konferenz ins Leben ruft?

Sven Prien-Ribcke:
Das Zusammenspiel von Kritik und Zukunftsdenken passen ganz gut zur Leuphana Universität. Mit dem Leuphana Bachelor haben wir ein Studienmodell, das sich fachüberschreitend den großen Fragen stellen möchte. Eine eigene Fakultät Nachhaltigkeit, Forschungsschwerpunkte zur digitalen Gesellschaft und das Anliegen, sich dialogisch in die Zukunftsgestaltung einbringen zu wollen, sind eine gute Umgebung für eine gesellschaftsoffene Utopie-Konferenz an einer Universität. Wie immer braucht es Menschen, die dann eine Initiative ergreifen. Hier kamen Gelegenheit und Bereitschaft zusammen.

Es geht nicht um die eine perfekte Welt.


Bevor wir über die kommende Konferenz sprechen, eine Frage an euch beide: Wie sieht eure Utopie einer lebenswerten Zukunft aus und warum ist es so wichtig, dass wir utopisch und groß denken?


Maja Göpel:
Der Moment, in dem sich Krisen zuspitzen, ist häufig mit viel Leid und sozialen Verwerfungen verbunden. Spätestens mit dem russischen Angriffskrieg, der die Ukraine zerstört und Europa erschüttert, ist eine Ära zu Ende gegangen. Wir leben in einer Zeit der Zumutungen. Aus der Transformationsforschung wissen wir, in Krisenzeiten kommen viele der Selbstverständlichkeiten und strukturellen Logiken eines Status Quo gleichzeitig ins Wanken. Gepflogenheiten können radikal hinterfragt und der Blick auf menschliche Möglichkeiten kann sich neu ausrichten. Unsere Aufgabe ist es, unsere Institutionen auf neue Zeiten vorzubereiten. Also: Gerade in Krisenzeiten ist das große und visionäre Denken sehr wichtig.


Sven Prien-Ribcke: Für mich ist die Kritik an radikaler Ungerechtigkeit ebenso wichtig wie das demokratische Versprechen, dass wir Grausamkeit und ungerechtfertigte Herrschaft überwinden können. Utopisch zu denken, kann dann bedeuten, Wege zu gerechteren Gesellschaften offen zu halten. Auf den Plural kommt es dabei an.

Gute Geschichten für morgen könnten gerade für die erschöpften Demokratien des Westens zu einer Art Lebensmittel des Jahrzehnts werden.

Es geht nicht um die eine perfekte Welt. Perfektionismus und Rigorismus verdunkeln im Handumdrehen die eigentlich utopischen Ziele und verwunden die offene Gesellschaft. Es geht um die Möglichkeit, Ungerechtigkeit jederzeit zur Sprache zu bringen und um die demokratische Leidenschaft, öffentlich um gerechtere Pfade zu ringen.

Die Zumutung liegt darin, dass wir mit der Gerechtigkeitssuche nie fertig werden. Die gute Nachricht lautet: Das utopische Denken und Handeln befreit uns in bedrängten Lagen mit Geschichten für morgen. Gute Geschichten für morgen könnten gerade für die erschöpften Demokratien des Westens zu einer Art Lebensmittel des Jahrzehnts werden.


Liebe Maja, der Buchtitel deines Buches „Unsere Welt neu denken“ passt gut zu dem Reflecta - Motto „rethink your world“. Wie interpretierst du das Neudenken unserer Welt in deinem Buch und welche Konsequenzen sollten dem Denken folgen?


Maja Göpel: In dem Buch ziehe ich die Verbindung zur Zeit der Aufklärung und industriellen Revolution und zeige, dass viele der zentralen Ideen über menschliche Entwicklung in der Zeit damals eine liberale Agenda verkörpert haben mit dem Ziel, bisherige Strukturen und Selbstverständlichkeiten zu überwinden. Damals befanden wir uns aber in einer „leeren Welt“, wie Hermann Daly es formuliert hat: wenige Menschen, geringer pro Kopf Konsum und scheinbar endlose Naturreserven.

Heute hat sich das fast ins Gegenteil verkehrt, wir leben in einer „vollen Welt“ mit vielen Menschen, hohem pro Kopf Konsum und sehr wenig verbleibenden Naturreserven. Daher rühren ja auch viele der Krisen heute: die Leitgedanken guten Wirtschaftens stammen aus dem 19. Jahrhundert, wir leben nun aber im 21. Jahrhundert. Eine aufklärerische Agenda muss diese veränderte Realität voranstellen und dann bessere Konzepte denken – und umsetzen. Eine Rekonfiguration bisheriger Lösungen, da sie eben nicht mehr fit4future sind.

Eine Alternative sollte sich heute nicht mehr stärker rechtfertigen müssen als die Fortsetzung des Status Quo.


Auf was dürfen wir uns im Hinblick auf die kommende Konferenz besonders freuen?

Sven Prien-Ribcke: Wir fragen uns, was das große Freiheitsversprechen der demokratischen Gesellschaften angesichts der Klimakrise, der Weltarmut und des russischen Angriffskrieges überhaupt noch bedeuten kann. Utopisch zu denken, kann dann auch heißen, Wege zu gerechteren Gesellschaften offen zu halten. Die Utopie-Konferenz sucht in diesem Sommer nach einem Freiheitsverständnis auf der Höhe der 2020er Jahre. Nach einer Freiheit, die aus den gegenwärtigen Verwundungen lernt und sich auf eine demokratische Zukunftskunst versteht. Um der Freiheit auf die Spur zu kommen, beleuchtet die Konferenz sechs politische Ideen: vom Grundeinkommen über die Energiedemokratie bis hin zur Schule für die nächste Gesellschaft.

Mit großer Vorfreude schauen wir auf die Lange Nacht der utopischen Praxis. Uns interessieren Geschichten des Gelingens mit utopischem Freiheitspotenzial, die ihre eigentliche Kraft auch durch wunde Punkte und Momente des Scheiterns entfalten. Besonders wertvoll wird es, wenn dazu die eigenen biographischen Kurven gehören, die meist mit den Orten und Projekten verknüpft sind. Und vor allem: Die Teilnehmenden sind dazu eingeladen, etwas zur Langen Nacht mitzubringen, das ein utopisches Projekt illustriert: etwa ein Foto, eine Installation oder eine Geschichte.

Maja Göpel: Mit dabei sind u.a. die Sozialunternehmerin des Jahres Henrike Schlottmann, der Architekt Van Bo Le Mentzel und die Gründerin Verena Pausders. Mein Ziel ist es, dass wir die Beweislast umdrehen und damit den Möglichkeitsraum des Handelns weit aufspannen. Eine Alternative sollte sich heute nicht mehr stärker rechtfertigen müssen als die Fortsetzung des Status Quo. Denn utopisch sind bei genauem Hinsehen doch genau diejenigen, die immer noch von einer Normalität sprechen, zu der wir zurückkehren können.


reflecta.network ist der digitale Treffpunkt zur Utopie-Konferenz. Hier können wir Ideen weiterdenken und uns verabreden.
Anmeldungen zur Utopie-Konferenz: www.leuphana.de/utopie
https://www.reflecta.network/seite/utopie-konferenz


Maja Göpel
Maja Göpel gehört zu den gefragtesten Ökonom:innen der Republik. Zusammen mit Richard David Precht führt sie durch die Utopie-Konferenz 22. Die Transformationsforscherin ist Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg und Mitbegründerin von Scientists4Future. Im September 2022 erscheint Maja Göpels neues Buch „Wir können auch anders. Aufbruch in die Welt von morgen“

https://www.maja-goepel.de


Sven Prien-Ribcke
Sven Prien-Ribcke leitet am Leuphana College die innovativen Veranstaltungsformate. Zum dritten Mal bereitet er mit einem großen Team die Utopie-Konferenz vor. Der Politikwissenschaftler kuratiert seit über 10 Jahren Großkonferenzen zur nachhaltigen Entwicklung, lehrt mit Leidenschaft an der Universität Lüneburg und interessiert sich für Fragen der demokratiepolitischen Bildung und der politischen Philosophie.
https://reflecta.network/changemaker/sven-prien-ribcke

Sven Prien-Ribcke auf reflecta.network

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