01/11/20 · Interviews
Nikolas Migut über seinen gemeinnützigen Verein StrassenBLUES und gelebte Empathie
Eine Vision ist wichtig, aber einfach mal anfangen und machen noch wichtiger.
Der Hamburger Verein StrassenBLUES fördert Empathie in unserer Gesellschaft durch ungewöhnliche Aktionen für und mit Obdachlosen. Über die Hintergründe und den Weg dorthin berichtet Gründer Nikolas Migut im Interview.
Interview: Daniela Mahr, August 2020
Foto: David Diwiak
In eurem Beschreibungstext heißt es, dass der Verein StrassenBLUESdurch „ungewöhnliche Aktionen“ die Empathie für und mit Obdachlosenfördert. Wie kann man sich das genau vorstellen? Welche Aktionen macht ihr?
Zwei Beispiele zeigen, dass wir kreative Wege in der Obdachlosenhilfe gehen.
Alex war zehn Jahre obdachlos, hat während seiner Zeit auf der Straße erfolglos Gedichte geschrieben. Ich habe ihn 2012 kennengelernt. Drei Jahre später habe ich ihn wieder getroffen und wir haben seine Gedichte und die Fotografien von Rosi – die sechs Jahre obdachlos war und in dieser Zeit Bilder gemacht hat – in unserem StrassenBUCH veröffentlicht. Dabei durfte Alex 2018 vor über 150 Menschen sein Buch vorstellen und Autogramme geben. Eine echte Wertschätzung seines Talents. Neben solch einer Selbstverwirklichung fördern wir auch den sozialen Austausch. Seit fünf Jahren bringen wir Obdachlose und Menschen mit Dach über ihrem Kopf in geschütztem Rahmen zusammen. So konnten sich bereits über 800 Menschen auf Augenhöhe bei unserem alljährlichen StrassenWEIHNACHTSWUNSCH begegnen und den oftmals nicht gefeierten Ehrentag eines Obdachlosen beim StrassenGEBURTSTAG gemeinsam nachfeiern.
Seit wann gibt es den Verein und wie viele Menschen wirken daran mit?
Als Initiative startete ich StrassenBLUES im Januar 2015 durch das erneute Aufeinandertreffen mit dem Obdachlosen Alex. 2016 gründete ich mit meiner Frau Milena den gemeinnützigen Verein mit Freunden und Kollegen. Derzeit engagieren sich etwa 50 Ehrenamtliche im Verein.
In diesem Moment weiß ich, dass ich den Drehort verlassen muss, um Alex in die Nacht zu folgen.
Wie kam es, dass du StrassenBLUES ins Leben gerufen hast?
Es ist 4.30 Uhr morgens. September 2012. Ich drehe eine Doku-Reportage für die NDR-Sendereihe „7 Tage“ in der Berliner Bahnhofsmission am Zoo. Plötzlich taucht er auf. Alex, ein Obdachloser mit funkelnden blauen Augen, die mich aber melancholisch anschauen. Er drückt sich sehr gewählt aus. Wie ein Theaterschauspieler auf der Bühne. Spricht direkt in meine Kamera: „Alexchen aus Köln. Gewohnt in Mönchengladbach und in Neumünster, jetzt in Berlin gelandet. Und ich weiß gar nicht mehr, was ich machen soll. Habe auch kein Geld und nix.“ In diesem Moment weiß ich, dass ich den Drehort verlassen muss, um Alex in die Nacht zu folgen. Es wird eine gemeinsame Odyssee durch die Berliner Nacht bis in den Morgengrauen. Nach einem gemeinsamen Frühstück sagt Alex nur kurz „Tschüss!“ und verschwindet einfach wieder so, wie er plötzlich aufgetaucht ist. 2015 habe ich Alex nach längerer Suche wieder gefunden und die Kurz-Dokumentation “Straßenblues” geschaffen. Das war der Anfang von allem.
Wie finanziert sich der Verein und die Aktionen?
Wir finanzieren uns überwiegend durch Spenden. Zudem haben wir bisher kleine Förderungen erhalten.
Was machst Du, wenn du nicht gerade ehrenamtlich bei StrassenBLUES aktiv bist?
Ich war zehn Jahre Filmemacher und Journalist beim Norddeutschen Rundfunk / ARD. Inzwischen arbeite ich als Video-Redakteur bei der Stiftung Deutsches Hilfswerk / Deutsche Fernsehlotterie gGmbH, die sich als Soziallotterie für ein solidarisches Miteinander einsetzt.
Was waren deine größten Lerneffekte während deiner Zeit mit StrassenBLUES?
Eine Vision ist wichtig, aber einfach mal anfangen und machen noch wichtiger. Einzelkämpfer bleiben einsam und im Team etwas erreichen macht auch mehr Spaß und motiviert ungemein. Ohne meine Frau Milena als Sparringpartner und Ideengeberin würde es den Verein so nicht geben. Sich zunächst selbst annehmen ist eine gute Basis dafür, um anderen zu helfen.
Ich wünsche mir täglich gelebte Empathie für unsere Mitmenschen und unsere Natur. Die Liebe und Energie, die das freisetzt, wird zu einer lebenswerteren Zukunft für uns alle werden.
Wo soll eure Reise hingehen? Was ist deine Vision für die Zukunft? Was wünschst du dir und wie kann man euch auf dem Weg unterstützen?
Ich würde mir wünschen, dass wir Mitstreiter in jeder Großstadt Deutschlands finden, die sich mit uns für mehr Mitmenschlichkeit einsetzen. Dabei beziehe ich das nicht nur auf Obdachlose, sondern auf das Miteinander für die Schwachen in unserer Gesellschaft an sich.
Meine Vision für die Zukunft: Ich wünsche mir täglich gelebte Empathie für unsere Mitmenschen und unsere Natur. Die Liebe und Energie, die das freisetzt, wird zu einer lebenswerteren Zukunft für uns alle werden.
Wenn du das nächste Mal an einer obdachlosen Person vorbeigehst, bleib einfach mal stehen.
Was wären ganz konkrete Tipps für jede:n einzelnen, dabei zu unterstützen, dass die Vision Wirklichkeit wird?
1.) Wenn du das nächste Mal an einer obdachlosen Person vorbeigehst, bleib einfach mal stehen. Investiere zehn Minuten deiner Zeit und sprecht über das Wetter, Fußball oder auch die Not auf der Straße. Es verändert. Den/die Obdachlose:n - und dich.
2.) Lächle mehr in persönlichen Begegnungen und versuche dein Gegenüber besser zu verlassen, als du ihn oder sie angetroffen hast.
3.) Werde aktiv in deiner Stadt. Unser Obdachlosenverein StrassenBLUES e.V. ist bereits gut in Hamburg vertreten. Wir wünschen uns Verbündete in anderen Städten.
Sucht euch Verbündete.
Was würdest du jemandem empfehlen, der/die selbst eine Idee hat und ein eigenes Projekt starten möchte?
Sucht euch Verbündete - Freunde, Kollegen, Bekannte – und geht die ersten Schritte gemeinsam. Es wird zu jedem Zeitpunkt Herausforderungen geben und oftmals existiert für ein Problem mindestens eine Lösung. Aber glaubt nicht, dass dieses gesellschaftliche Problem einfach von jemandem gelöst wird – macht euch gemeinsam daran, dass ihr es seid, die die Welt ein Stück weit positiv verändert zum Nutzen aller.