Reflecta

Van Bo Le-Mentzel über neue Formen von Architektur und Produkten als Trojanische Pferde für eine gerechtere Welt

"Trojanische Pferde" helfen dabei, Botschaften wie Gerechtigkeit, Demokratie oder Nachhaltigkeit zu vermitteln.

Van Bo Le-Mentzel ist innovativer Geist und studierter Architekt. Als Zweijähriger floh er mit seinen Eltern vor der kommunistischen Revolution in Laos nach Deutschland. Seine Jugend verbrachte er mit Graffiti, Rappen und als Radiomoderator. Heute ist er vor allem bekannt für Projekte wie die Hartz IV Möbel, das Tiny100-Haus, die Karma Chakhs oder das #dScholarship. Doch es geht vielmehr um eine Transformation unserer Sichtweise auf die Welt, statt um Häuser, Möbel oder Schuhe.

Interview: Daniela Mahr, Dezember 2018
Foto: Daniel Kleint

Du hast so viele Projekte gestartet. Was verbindet sie?

Bei vielen meiner Projekte geht es um den Prosuming-Trend. Prosuming ist die Mischung aus Producing (Produzieren) und Consuming (Konsumieren). Das ist ein Trend, der aus der Energiewirtschaft kommt und den Vorgang der eigenen Stromherstellung bezeichnet. Das Konzept übertrage ich jetzt auf andere Güter, wie Schuhe, Jacken, Möbel oder Häuser.

Was mich bei allem antreibt, ist die Sehnsucht nach Gerechtigkeit.

Stell uns doch kurz die wichtigsten Projekte vor.

Ja gerne. Ich habe 2010 die Hartz-4-Möbel entwickelt. Das ist ein Blog, der 2012 auch als Buch erschienen ist. Hier findet man Anleitungen, wie man teure Bauhaus-Möbel mit einfachen Mitteln aus dem Baumarkt nachbauen kann. Daneben habe ich die Karma-Chakhs (heute "Karma Classics), einen Fair-Trade-Schuh, erfunden. Zudem gründe ich neue Formen von Schulen und Universitäten, die das derzeitige Bildungssystem inspirieren können.

Ein anderes Projekt war „Hartz 5“. Hier versuche ich, das Experiment „Hartz 4“ weiterzuentwickeln. Darin stecken sehr viele Inspirationen: Zum einen finden sich darin Elemente vom „D-Scholarship“, ein auf Crowdfunding basierendes Stipendium, das ich 2014 umgesetzt habe und zum anderen wäre da „mein Grundeinkommen“ und Wikipedia. Die Idee dahinter ist, dass jede Person einen anderen Menschen fördern kann. Im Moment sind wir oft nett zu den Menschen, die uns Geld geben, also unsere Arbeitgeber oder Kunden. Mit Hartz 5 könnte ich mir vorstellen, dass wir auch nett zu Menschen wären, denen wir im Alltagsstress kaum Beachtung schenken.

Bis März 2018 durften wir bei dem Bauhaus Campus, der ein einjähriges Experiment war, folgende Fragen bearbeiten: Wie kann ein gerechteres Miteinander funktionieren? Wie können Menschen, die Arbeit, Gemeinschaft und Platz brauchen, diese Bedürfnisse im urbanen Raum realisieren? Dieser temporäre Campus aus Mini-Häusern stellte als Dorf und Utopie neue Wohn- und Lebenskonzepte zur Diskussion.

Die Frage nach dem „Warum bin ich am Ende der Kette“ war permanent da.

Wie kam es dazu, dass Du Dich diesen Ideen widmest und was waren Deine Startschwierigkeiten?

Meine Eltern sind von Laos nach Europa geflohen und haben in Thailand ein, zwei Jahre Zwischenstopp gemacht, weil nicht klar war, wohin sie gehen sollten. Während dieser Zeit kam ich in einem Lager zu Welt. Das heißt, dieses rastlose, dieses ständige nicht wissen, was kommt, das darunter leiden, dass es anderen besser geht als uns, beschäftigt mich somit schon mein ganzes Leben. Die Frage nach dem „Warum bin ich am Ende der Kette“ war permanent da.

Jetzt bin ich plötzlich nicht mehr am Ende der Kette. Ich bin jetzt Gastprofessor und könnte mich zurücklehnen und sagen: Super, das war der „deutsche Traum“ – ich hab’s geschafft und ihr habt alle Pech.“ Aber so einfach ist das nicht.

Was ist also die Grundmotivation, die Dich antreibt?

Was mich bei allem antreibt, ist die Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Ich habe das Gefühl, dass der Wohlstand, der in Deutschland herrscht, absolut surreal ist.

Wenn alle Menschen so leben würden, wie viele Menschen in Wiesbaden, Mainz oder Frankfurt … Das wäre einfach gar nicht möglich.

Diejenigen, die am längeren Hebel sitzen, nämlich die reichen Industrienationen, wir nehmen uns natürlich einfach das Recht, unsere Wohnung so groß wie möglich zu machen, so viel Wasser zu verbrauchen, wie wir wollen etc. Wir lassen die Güter, die wir gerne und viel benutzen herstellen und uns ist es eigentlich ziemlich egal, wie, von wem und unter welchen Bedingungen zum Beispiel Kaffee hergestellt wird. Unser Wohlstand ist extrem ausbeuterisch und das haben viele noch nicht verstanden. Viele halten an dem Wohlstand fest und sagen, wir müssten ihn sichern. Ich bin aber der Meinung, wir müssten ihn endlich abbauen.

Ich komme ja selbst aus einem Land, aus dem die Leute alle weg wollen – aus Laos. Wenn ich jeden Tag mitbekomme, dass Menschen sterben, weil sie hier her wollen, ist schlichtweg ungerecht. Was daraus bei mir entsteht, ist eine innere Wut, die mich zu meinen Projekten antreibt.

Ich habe einfach das Gefühl, dass wir Menschen ein Problem damit haben, wir selbst zu sein.


Die Produkte, die aus Deinen Projekten und Ideen entstehen, könnte man fast als trojanische Pferde bezeichnen. Es geht nicht um Schuhe, Häuser oder Möbel.

Ganz genau. Wenn Du über Gerechtigkeit, Demokratie oder Nachhaltigkeit sprichst, dann sind das alles sehr abstrakte Begriffe, die letztlich keiner versteht. Und wenn Du Jahresberichte oder Studien liest, dann wird das auch nicht Dein Verhalten verändern. Man braucht immer eine Art Köder, eine Art trojanisches Pferd. Meine trojanischen Pferde, die die Botschaft vermitteln, sehen eben aus wie schicke Möbel, coole Schuhe oder tolle Häuser. Aber es geht bei meinen Projekten natürlich nie um die Schuhe, Häuser oder Möbel. Es geht nicht um materielle Dinge, sondern um die Selbstständigkeit und darum Menschen zu ermutigen, selbst nachzudenken.

Ist das wirklich so, dass wir so wohnen müssen, wie wir wohnen? Müssen wir alle den Bildungsweg einschlagen, von dem uns alle erzählen? Müssen wir wirklich 40 Stunden die Woche arbeiten? Müssen wir unsere Kinder abgeben?

Ich habe einfach das Gefühl, dass wir Menschen ein Problem damit haben, wir selbst zu sein. Wir flüchten vor uns selbst und das ist ein Fehler. Wir brauchen unbedingt wieder den Zugang zu uns selbst. Das ist eine schmerzhafte, aber sehr schöne Erfahrung – eine, die man mit keinem Geld der Welt bezahlen kann.

Viele Menschen bezeichnen Deine Produkte als nachhaltig. Findest Du den Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ überhaupt noch passend und zeitgemäß?

Das Wort Nachhaltigkeit wirst Du in keinem meiner Projekte finden. Das Wort sagt überhaupt nichts mehr aus. Ich benutze lieber das Wort „Enkeltauglichkeit“. Somit überlege ich mir im Vorfeld, ob mein Handeln für meine Enkel noch eine Bedeutung haben wird. Wenn dies nicht der Fall ist, lasse ich die Finger davon.

Was würdest Du anderen Menschen empfehlen, die aktiv werden wollen?

Ich würde ihnen empfehlen, nicht zu viel nachzudenken, sondern einfach zu handeln. Und es gibt einige, die schon so ticken wie ich und Spark-ups gründen. Es geht um das Experimentieren!

Als ich mit den Karma Chakhs, den heutgen Karma Classics, anfing, hatte ich keine Ahnung von der gesamten Materie. Aber mithilfe der Crowd, haben wir gemeinsam eine Lösung gefunden.

Mein Motto lautet: do it together – nicht do it yourself.

Es ist ein Privileg mit den Augen eines Kindes auf die Welt schauen zu dürfen.

Anhang: Aufgrund der Einladung zu dem Reflecta Filmfestival 2015 entschloss Van Bo Le-Mentzel spontan, dass sein Beitrag zu dem Festival filmischer Natur sein sollte und drehte den Film „3 Min of Fame Love and Peace“, der weiter unten verlinkt wird.

Für das Reflecta Filmfestival 2015 in Frankfurt hast Du Dich auf neues Terrain gewagt: Du wurdest eingeladen und hast direkt beschlossen, einen Film zu drehen.

Ja, absolut. Ich liebe es, Anfänger zu sein. Denn nur Anfänger fangen wirklich an. Die anderen schreiten ja fort – die sogenannten Fortgeschrittenen – oder Fachleute sind schon zu sehr in ihrem Fach gefangen. Es ist ein Privileg mit den Augen eines Kindes auf die Welt schauen zu dürfen.

Hier der Trailer:

In dem daraus entstandenen Film „3 Min of Fame Love and Peace“ geht es um einen erfolglosen Musiker, der mithilfe seiner Religion zu sich selbst findet. Ist dieser Film auch enkeltauglich?

Ich hoffe doch sehr, dass man diesen Film noch in 50 Jahren anschauen mag. Und dass er den Kindern meiner Kinder etwas vermittelt. Menschen brauchen Geschichten, an denen sie selbst wachsen können. Der Islam ist heute in Europa das, was das Judentum vor hundert Jahren war: der Sündenbock der Nation. Und das wird sich sicherlich auch in 100 Jahren nicht ändern. Da müssen dann wieder andere Minderheiten hinhalten. Der Film ist ja ein Experiment. Keine Schauspieler, kein Drehbuch, kein Budget, aber eine starke Botschaft: Ich würde gerne als Nichtmoslem den Koran verstehen.

Interessanterweise haben sich bei mir viele fromme Moslems gemeldet, ein Muezzin aus Solingen spielt eine der Hauptrollen und spielt an der Seite von Hauptdarsteller Shai Hoffmann, der einen Moslem spielt, im wahren Leben aber Jude ist. Als sich das herumgesprochen hat, haben sich dann viele andere Juden aus meinem Facebook-Kreis gemeldet. Der Film ist ein jüdisch-muslimischer Perspektivwechsel. Man hätte mit dieser Energie auch eine Bildungskonferenz oder ein Buch machen können. Ich habe mich für das Medium Film und somit Schauspiel entschieden. Denn die Darsteller haben unseren Film wie einen Spiegel benutzt, der ihnen erlaubte, eine andere Rolle einzunehmen, ohne ein Risiko eingehen zu müssen.

Der Koran ist eine poetische Einladung gewesen, mich selbst zu erkunden.


Und was hast Du für Dich im Koran gefunden?

Der Koran ist eine poetische Einladung gewesen, mich selbst zu erkunden. Wie stehe ich zu Politik, Ernährung, Genderthemen, Gerechtigkeit, Geld, Zinsen, Liebe und zu Menschen, die nicht so sind wie ich. Man darf nicht vergessen, der Koran ist eine Überlieferung und kein Buch. Und der Koran ist keine einfache Bettlektüre, deswegen liegt er auch nicht in Hotels aus wie die Bibel. Den Koran muss man auf Arabisch singen, dann macht er was mit Dir.

Da ich kein arabisch kann, aber arabische Musik liebe, habe ich diese Schwäche mit algerischer Popmusik wettgemacht: In meinem Film geht es um einen algerischen Popmusiker, der den Konflikt austragen muss, dass er aus Karrieregründen seinen heißgeliebten Song aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzen muss. Ihm wird aber klar, dass seine Fans den Song auch dann fühlen können, wenn sie die Sprache nicht verstehen. Es ist verrückt, aber es funktioniert. Im Dada war das Wort auch nicht entscheidend, sondern die Art des Vortragens.

Es gab kein Casting und auch kein Drehbuch. Mitgestalten konnten alle. Warum war Dir das wichtig?

Ich denke, dass ein guter Film mehr verändern kann als eine wissenschaftliche Studie oder gar ein Gesetz. In Deutschland ist die Hip Hop-Bewegung in den Achtzigern durch den Musikfilm „Beatstreet“ von Harry Belafonte in Gang gesetzt worden und Deutsch-Rap wurde in den Neunzigern durch die Fernsehdoku „Lost in Music“ populär. Was ich an den Filmemachern hierzulande kritisiere ist, dass die alle zu sehr nach den Spielregeln der Fernsehanstalten und Filmförderung tanzen. Wer Geschichten erzählen kann, hat auch eine Verantwortung.

Und diese beginnt nicht erst bei der Premiere, sondern schon am Set mit der Frage, wie ich mit dem Team umgehe. Ein Set ist, ähnlich wie der Theaterbetrieb, hochgradig ausbeuterisch. Regisseure und Produzenten glauben, dass nur dann ein gutes Werk herauskommt, wenn alle nach deren Pfeife tanzen. Bei unserem Projekt konnten alle Regie führen oder eine Rolle besetzen und sogar das Drehbuch schreiben.

Bis auf Kameramann Michael Homa waren wir alle Amateure. Wenn die Menschen am Set etwas für sich entdecken, dann habe ich schon viel erreicht. Mein Film beginnt nicht erst im Kinosaal, sondern schon sehr viel früher. Ich nenne das Crowdscripting. Ich hoffe, dass viele Zuschauer den Film kopieren, weiterreichen oder gar neu verfilmen oder einzelne Passagen neu interpretieren und remixen. Geschichten müssen nicht geschlossen und linear sein. Sie können sich auch verändern und zirkulieren. So wie das Leben. Übrigens eine Sache, die mich der Koran gelehrt hat.

Auf der Filmseite erhält man ein Passwort, um den Film anzusehen.

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